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Abgeheftete Verbrechen - Theaterstück als Mahnung

| Leben in Riesa

Dieses Stück lässt nicht zu, dass man aufs Handy schaut oder die Raumgestaltung der Aula des Werner-Heisenberg-Gymnasiums in Augenschein nimmt. Drei Personen auf der Bühne, zwei Schauspieler und ein musikalischer Begleiter, gelang es, die volle Aufmerksamkeit zu gewinnen. Das Stück „Treppe ins Ungewisse“ von Heiko Ostendorf schildert die Euthanasie-Verbrechen der Nationalsozialisten und den späteren Umgang mit den beteiligten Ärzten, der zu großen Teilen von Verharmlosung und Versagen der Justiz gekennzeichnet war – und zwar in beiden deutschen Staaten. Viele derjenigen, die in den Tötungsanstalten mitgewirkt hatten, waren bald wieder in verantwortlicher Stellung tätig.

Der Münsteraner Ostendorf bringt das Stück mit seinem Theater odos zur Aufführung, so auch am Vorabend des Gedenktages für die NS-Opfer in Riesa. Eine Wand mit akkurat angeordneten Akten kennzeichnet das Büro der von Beate Reker gespielten Staatsanwältin. Mit ihrem Assistenten (Johan Schüling) erfasst sie die dort abgehefteten Informationen zu den Verbrechen, vor allem aber zu den danach stattgefundenen Prozessen, die zu großen Teilen mit äußerst milden Urteilen gegen die beteiligten Mediziner endeten. Gemäß Hitlers Euthanasie-Befehl wurden Menschen mit „unwertem Leben“ - geistig Behinderte, aber auch Schwule oder Leute, die „nur“ gegen das System aufbegehrten - in psychiatrischen Einrichtungen sterilisiert und in zehntausenden Fällen durch Nahrungsentzug, Medikation und Vergasung ermordet. „Treppe ins Ungewisse“ bezieht sich auf den Keller im hessischen Hadamar, wo in der psychiatrischen Klinik mehr als 14.000 Menschen umgebracht wurden. Arzt Hans-Bodo Gorgaß, einer der wesentlichen Täter, wurde 1947 zwar zum Tode verurteilt, was in der Bundesrepublik jedoch später in Haft und eine vorzeitige Entlassung umgewandelt wurde. Gorgaß arbeitete bis zur Rente unbehelligt in der Pharmaindustrie. 

Im Wechsel zwischen Zeitzeugenbericht und Urteilsanalyse bringt „Treppe ins Ungewisse“ nichts Fiktives, sondern historisch nachgewiesene Schicksale auf die Bühne. Der Konflikt, den die Staatsanwältin mit ihrem Assistenten diskutiert und den sie mit sich selbst ausfechtet, kulminiert im Geständnis, dass auch ihr Vater ein Mittäter war. „Das einzige Urteil ist die Erinnerung!“ hatte sie angesichts des Umgangs der Justiz mit den Verbrechern schon früh resümiert.

Diese Erinnerung muss auch in Gegenwart und Zukunft bewahrt werden: Oberbürgermeister Marco Müller hatte vor der Aufführung auf die Radikalisierung von Teilen der Gesellschaft und einen bedenklichen Vertrauensverlust in die Demokratie verwiesen. „Derzeit ist nicht absehbar, wohin sich unsere Gesellschaft entwickelt. Wir stehen deshalb gemeinsam in der Pflicht, selbst aktiv zu werden, um die Stärken der Demokratie zu bewahren“, sagte er. Dazu müssten aber auch die politischen Entscheider endlich die Warnsignale endlich ernst nehmen und die Bürger ernst nehmen, ihre Meinung respektieren und sie nicht von oben herab behandeln.